29. Kapitel

Baltimore, Maryland 6. März

»Was, zur Hölle, läuft hier?« Robert Swenson kam in die Wohnung marschiert.

Hobart schaute verärgert von einem dicken Computerausdruck auf. Er hatte Kopfschmerzen, gegen die anscheinend kein Aspirin half.

»Was gibt’s denn, Bob?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Ich habe gerade gesehen, wie einer unserer Jungs vor irgendeinem Gefängnis in New York umgelegt worden ist, und jetzt höre ich, dass der Kerl, der ihn erschossen hat, von einem anderen Gebäude aus weggepustet worden ist, als er flüchten wollte.«

Hobart lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte den Ausdruck mit der Schrift nach unten auf den Schreibtisch. »Ich hab’s auch gesehen«, entgegnete er gelassen. »Glück für uns – da müssen wir doch nicht so bald dichtmachen, wie wir gedacht haben.«

Swenson beäugte ihn misstrauisch. »Woher willst du wissen, dass er nicht längst geredet hat?«

»Ich habe einen … Freund mit entsprechenden Beziehungen. Er hat es bestätigt.«

»Ist er zuverlässig?«

Hobart nickte. Er hatte seinen »Freund« vor zehn Jahren dabei erwischt, wie er sich bei einer Drogenrazzia die Taschen mit Bargeld voll stopfte. Statt ihn zu verpfeifen, hatte er den Mund gehalten und sich gedacht, dass er vielleicht eines Tages einmal davon profitieren könnte.

Nach seiner Bestätigung, dass Nelson geschwiegen hatte, hatte sein Freund ihm erklärt, damit seien alle Schulden beglichen und den Hörer aufgelegt, ehe Hobart ihm noch einmal drohen konnte.

»Sie haben den Namen des Schützen noch nicht bekannt gegeben, aber im Fernsehen bringen sie ein Bild von ihm. Du kennst ihn nicht zufällig, oder?«, fragte Swenson.

»Karns«, sagte Hobart mit vorgetäuschter Empörung. »Es war doch ein Fehler, ihn in der Truppe zu behalten. Unberechenbar. Er muss gehört haben, dass Nelson redet, und hat sich wohl gedacht, er könne auf diese Weise die Strychningeschichte wieder gutmachen.«

»Und wer hat ihn deiner Meinung nach umgelegt?«

»Na, vermutlich das FBI. Sie haben Mist gebaut und versuchen jetzt, das zu vertuschen. Sieht nicht allzu gut aus, wenn ihnen der Starzeuge weggeschossen wird.« Hobart merkte, dass sein Partner nicht so recht überzeugt war.

»Und wo warst du gestern um zehn Uhr?«, fragte Swenson unsicher. Hobart lächelte. Er konnte seinem Partner förmlich ansehen, wie gern er glauben wollte, dass er nichts damit zu tun hatte. Es würde also nicht schwierig sein, ihn zu überzeugen.

»Ich war im Büro und habe mich mit unseren Finanzen beschäftigt.«

Swenson war am Tag der Schießerei in Washington gewesen und konnte deshalb nicht wissen, ob das stimmte oder nicht. Zweifellos würde er bei erster Gelegenheit nachprüfen, wann die entsprechende Datei abgespeichert worden war. Hobart hatte vorher die Uhr im Computer verstellt, sodass sie 10.35 Uhr anzeigen würde, ungefähr eine halbe Stunde nach dem Vorfall. Das war natürlich kein stichhaltiger Beweis, aber es müsste Swenson wenigstens vorläufig beruhigen.

»Trotzdem müssen wir zusehen, dass wir von hier verschwinden«, meinte Swenson. »Früher oder später wird man über Nelson und Karns auf dich kommen.«

»Ja, aber so gut habe ich sie gar nicht gekannt. Selbst wenn ein paar hundert Agenten an der Sache dran sind, werden sie mindestens vier Wochen brauchen, bis sie über meinen Namen stolpern. Wir haben also noch gut zwei Wochen, um alles in Ruhe zu beenden.«

Swenson schwieg.

»Ich muss jetzt unbedingt noch einiges fertig machen, Bob. Entschuldige, ja?«

»Was hast du heute vor?«

»Ich bin in ungefähr einer Stunde weg und abends wieder da.«

»Vielleicht können wir uns dann mal zusammensetzen und besprechen, wie es weitergehen soll«, sagte Swenson hoffnungsvoll. An der Tür blieb er stehen und schaute auf das Schachbrett neben dem Fernseher. Die weißen Bauern, die Nelson und Karns repräsentierten, lagen auf der Seite, ebenso zwei blaue Bauern, die für die toten Killer des Kartells standen.

Nachdem Hobart wieder allein war, drehte er den Ausdruck auf seinem Schreibtisch um und machte damit weiter, mit Hilfe eines Lineals die endlosen Zahlenkolonnen durchzugehen.

Die Liste hatte er von einem alten Bekannten erhalten, der bei der Telefongesellschaft arbeitete. Phil Nelsons Festnahme hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Stundenlang war er im Geist alles durchgegangen und hatte gegrübelt, wo er möglicherweise einen Fehler gemacht hatte.

Am Ende war er zu dem Schluss gekommen, dass Nelson die Sache vermutlich irgendwie vermasselt hatte. Das war eben ein Risiko, das man bei solchen Operationen immer einging – es war unmöglich, alles selbst zu machen.

Er hatte Nelsons Festnahme schlicht als bedauerliche Tatsache verbucht und war an diesem Abend mit der Zuversicht zu Bett gegangen, dass er in den nächsten beiden Wochen damit weitermachen konnte, die öffentliche Meinung in seinem Sinne zu beeinflussen und danach unauffällig aus dem Land zu verschwinden.

Es war fast drei Uhr morgens gewesen, als er mit einem Ruck im Bett aufgefahren war. Er hatte Blake gegenüber damals im Motel die Sache mit DiPrizzio erwähnt. Könnte der Reverend womöglich das FBI angerufen haben? Hobart verwarf den Gedanken zuerst, hatte aber nicht mehr einschlafen können, und da es ihm einfach keine Ruhe ließ, war er am nächsten Tag die Strecke zwischen Blakes Büro, seinem Haus und dem Motel abgefahren und hatte sich Nummern aller Münztelefone aufgeschrieben, die er sah.

Sein Bekannter bei der Telefongesellschaft war fast erstickt bei der langen Liste, aber Hobart hatte erklärt, dass der Reverend Morddrohungen bekomme und er festzustellen versuche, wer dahinter stecke. Da sein Bekannter ein ergebener Anhänger von Blake war, hatte er sich an einige Leute gewandt, die ihm einen Gefallen schuldig waren, und eine Liste von Nummern erhalten, die an den entsprechenden Tagen von diesen Telefonen aus angerufen worden waren.

Hobart rieb sich seine schmerzenden Augen. Die Telefongesellschaft hätte per Computer leicht jede Verbindung mit der Hotline des FBI herausfiltern können, was ihm etliche Stunden Langeweile und eine Migräne erspart hätte. Allerdings kannte jedermann im ganzen Land diese Nummer, die man seit zwei Monaten permanent auf sämtlichen Bildschirmen in Amerika lesen konnte.

Auf der vorletzten Seite wurde er endlich fündig. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und warf den dicken Computerausdruck in den Papierkorb. Er hatte seinen früheren Arbeitgeber unterschätzt. Blake war ein perfekter Schauspieler. Nicht das Geringste war ihm anzumerken gewesen, was in ihm vor sich ging und was er beabsichtigte, als er das Motel verlassen hatte.

Jetzt wusste er es also. Die Frage war, was konnte er damit anfangen?

***

Mark Beamon blieb in der offenen Tür des SIOC stehen, wo es sowieso immer lebhaft zuging, doch heute herrschte die pure Hektik. Einige Agenten telefonierten, andere tippten wild auf ihren Laptops herum, im Fernseher lief CNN. Dieser ganze Wirbel ließ ihn den Druck noch stärker empfinden, der ohnehin ständig auf ihm lastete.

Laura beugte sich über die Schulter eines Mannes, um etwas von seinem Computerschirm abzulesen. Beamon bahnte sich den Weg zu ihr und nickte flüchtig den Agenten zu, die ihm einen guten Morgen wünschten.

»Herrgott, Laura – leben Sie eigentlich hier?« Es war halb acht. Er hatte gehofft, dieses Mal vor ihr im Büro zu sein, aber wie gewöhnlich fühlte er sich, als habe er den halben Tag vertrödelt .

»Ich nutze eben gern die Arbeitsstunden.«

Beamon schnaubte nur und ging zur Kaffeemaschine. »Auch einen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hab bereits zwei Tassen intus, das reicht.«

»Na, dann folgen Sie mir bitte in mein Wohnzimmer.« Beamon ging auf einen leeren Konferenzraum zu. »Erzählen Sie mir, was es Neues gibt.«

Laura hatte einen Schnellhefter unter den Arm geklemmt und schloss die Tür. So aufgeregt, wie er sie noch nie erlebt hatte, verkündete sie: »Unsere Jungs warten schon vor der Kfz-Zulassungsstelle von Maryland und gehen dann sämtliche Cherokees durch. Anschließend werden die jeweiligen Führerscheine geprüft, ob die Angaben zur Beschreibung unseres Verdächtigen passen.«

»Wann können wir mit einer Liste rechnen?«

Laura zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, aber in ein paar Stunden kann ich Ihnen bestimmt mehr sagen. Der Name unseres toten Schützen ist übrigens William Karns.«

Sie setzte sich Beamon gegenüber an den kleinen Tisch und schob ihm den Schnellhefter zu. Beamon begann zu lesen.

»Seine Fingerabdrücke waren gespeichert, weil er ein ehemaliger Polizist war.«

»Interessant – genau wie Nelson. Scheint mir kein Zufall zu sein.«

»Es wird noch besser. Wir haben drei Zeugen dafür, dass Karns in einem verlassenen Haus gelebt hat, das nur ein paar Block von diesem Wohnkomplex entfernt liegt, in dem so viele Menschen mit Strychnin vergiftet wurden.«

»Also war er vermutlich nicht bloß irgendein Irrer – und es sieht so aus, als hätten Sie sich geirrt, dass die Strychningeschichte nur eine Nachahmungstat war.«

»Es sieht so aus, als hätten wir uns geirrt«, verbesserte Laura ihn leicht verärgert. »Einige Agenten schauen sich gerade sein Umfeld an und überprüfen seine Bekannten.«

»Ich habe heute Morgen keine Zeitung gelesen. Was meint die Presse?«

»Hauptsächlich ergeht sie sich in wilden Spekulationen. Die Journalisten kennen natürlich noch nicht seinen Namen und stellen alle möglichen Theorien auf – er habe sich selbst umgebracht, das FBI habe ihn getötet oder einer seiner eigenen Leute …« Sie verstummte.

»Kommen Sie, was noch?«

Laura wandte den Blick ab. »Sie werden ziemlich heftig kritisiert.«

»Ja, die Presse scheint so eine Art Hassliebe für mich zu empfinden.«

»Ich verstehe nicht, wie Sie das so locker wegstecken können, Mark. Die Sache mit Nelson war nicht einmal Ihre Idee, aber niemand sagt einen Mucks, alle ziehen die Köpfe ein und lassen Sie allein im Regen stehen.«

»Das ist eben Politik, Laura. Ich hoffe, Sie merken sich das für die Zukunft. Sorgen Sie immer dafür, dass Sie sich einen bequemen Sessel ausgeguckt haben, ehe die Musik aufhört.«

»Klar, Sie geben mir dafür ja ein verdammt gutes Beispiel.«

Beamon lachte. »Das ist eine von den Situationen, in denen gilt: ›Tu, was ich sage und nicht, was ich tue‹. Sie werden noch merken, dass ich mich häufiger nicht an meine eigenen guten Ratschläge halte.«

Laura lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Ich hoffe jedenfalls, Sie wissen, dass ich hinter Ihnen stehe, Mark.«

»Das lassen Sie mal schön bleiben. Sie gehen auch in Deckung, wenn es sein muss.«

Laura protestierte sichtlich gekränkt. »Wie können Sie denken …«

Beamon winkte ab. »Ich weiß, dass Sie bereit sind, mit mir gemeinsam unterzugehen, Laura, und das bedeutet mir viel. Aber das hat keinen Sinn. Außerdem rechne ich darauf, dass Sie eines Tages Direktor sind und mich in die Chefetage befördern.«

Laura lächelte gezwungen. »Vielleicht mache ich das dann sogar.«

Beamon kippte seinen Stuhl zurück und stemmte seine Füße gegen den Tischrand. »Genug von diesem politischen Mist. Kriminelle zu jagen soll schließlich Spaß machen. Sind Sie bereit für einen kleinen Ausflug?«

»Was meinen Sie?«

»Was meinen Sie, was meinen Sie? Ich meine, lassen Sie uns von hier verschwinden, bei Denny’s ein deftiges Frühstück nehmen und richtige Detektivarbeit machen. Nur wir zwei – den ganzen Tag lang. Genau wie Starsky und Hutch.« Er nahm die Füße vom Tisch und stand auf.

»Mark, ich kann nicht so einfach weg …«

»Ach was, das FBI überlebt auch mal einen Tag, ohne dass Sie im Büro sind, Laura. Delegieren Sie – so macht man das doch heute. Wir brechen in einer halben Stunde auf.«

Er trank den Rest seines Kaffees aus und ging zur Tür. Laura hastete davon, um zu versuchen, die Arbeit eines Tages in dreißig Minuten zu erledigen.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Laura. Ein ordentliches hausgemachtes Frühstück ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem, was es in einem Schnellrestaurant gibt.« Beamon gestikulierte heftig mit seiner rechten Hand und achtete wenig auf seine linke, mit der er das Auto lenkte. Ein Zahnstocher hing zwischen seinen Lippen. »Aber bei Denny’s ist meiner Ansicht nach das Verhältnis von Qualität, Preis und Menge am besten.«

Laura war beinahe übel von dem Riesenfrühstück, das sie im Magen hatte. Beamons wilder Fahrstil und seine Abhandlung über diverse fettige Frühstücksgerichte der Südstaaten machten die Sache auch nicht gerade besser. Sie beschloss, lieber das Thema zu wechseln.

»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wohin wir wollen.«

»Baltimore.«

»Baltimore. Okay. Warum?«

»Habe ich doch gesagt – um mal wieder richtige Detektivarbeit zu leisten.« Er zog ein Bündel gelbes Papier aus seiner Hemdentasche und reichte es ihr.

Laura faltete die Seiten auseinander. Sie waren aus dem Branchenbuch gerissen, und in der rechten oberen Ecke stand das Wort ›Theater‹

»Wollen wir uns ein Theaterstück ansehen?«

Beamon warf ihr einen übertrieben empörten Blick zu. »Nein, wir wollen uns kein gottverdammtes Theaterstück ansehen. Blättern Sie um.«

Sie drehte das Blatt um und sah die Rubrik ›THEATER-BEDARF‹, die grün unterstrichen war.

»Wir sind doch davon ausgegangen, dass der Kerl in Polen und der in der Bank ein und derselbe waren und dass er sich verkleidet hatte. Perücke, falscher Bart und so weiter, stimmt’s? Wenn er aus Baltimore stammt, ist anzunehmen, dass er sich die nötige Ausstattung dort besorgt hat. Also müssen wir nur noch den Ladenbesitzer finden, der sich an einen kleinen, mageren Kerl erinnert, der vor ungefähr zwei Monaten diese Sachen gekauft hat. Wir zeigen ihm die Führerscheinbilder, die wir von der Kfz-Stelle kriegen und – trara! Damit haben wir ihn.«

»Warum Baltimore?«, fragte Laura und ärgerte sich insgeheim, dass sie nicht selbst darauf gekommen war.

»Nun, was wissen wir denn über diesen Kerl? Wir wissen, dass er nicht aus Washington oder Saint Louis ist, weil diese beiden Städte mit den Bankschecks in Verbindung stehen – abgeschickt wurden sie in Washington, und die Bank war in Saint Louis. Jetzt finden wir heraus, dass er ein Nummernschild aus Maryland hat. Washington ist von Baltimore aus leicht zu erreichen, und man kann es an einem Tag nach Saint Louis schaffen – ich habe das überprüft. Außerdem hat unser anonymer Informant aus einer Telefonzelle in der Nähe von Baltimore angerufen. Mein Bauch hat mich in fast zwanzig Jahren noch nie getäuscht – und er schreit: Baltimore.«»Sind Sie sicher, es sind nicht die drei Eier mit Schinken, Speck, Bratkartoffeln, Brötchen und Soße?«

Beamon lachte. »Hören Sie auf, sonst kriege ich gleich wieder Hunger.«

»Es könnte auch irgendein anderer Ort in Maryland sein – beispielsweise Rockville. Das würde ebenfalls zu den Fakten passen.«

Beamon zuckte die Schultern. »Ja, da könnten Sie Recht haben. Wenn wir heute nichts rausbekommen, weiten wir die Suche aus.«

Laura beugte sich vor und stellte das Radio an. Sie hatte sich angewöhnt, vierundzwanzig Stunden am Tag die Nachrichten laufen zu lassen. »Es ist reine Spekulation …«

»Aber wenigstens hat es uns mal aus dem Büro rausgebracht.«

Laura strich die Karte von Baltimore glatt, die sie sich unterwegs an einer Tankstelle besorgt hatten. Leider war Kartenlesen nicht gerade ihre Stärke.

»Hier rechts abbiegen«, befahl sie in letzter Minute. Beamon riss heftig das Lenkrad herum, dass die Reifen quietschten.

»Herrgott, Laura. Geht das nicht ein bisschen früher?«

»Warum lassen Sie mich nicht fahren, und Sie machen den Lotsen?«, fragte sie hoffnungsvoll. Das Wort ›Todessitz‹ hatte in den letzten Stunden eine erschreckend konkrete Bedeutung gewonnen.

»Nee. Beim Kartenlesen im Auto wird mir immer schlecht.«Sie waren auf dem Weg zum letzten Laden für Theaterbedarf im Gebiet von Baltimore. Bisher hatten sie kein Glück gehabt. Laura hatte sich allerdings die Namen von einigen Angestellten notiert, die möglicherweise an den fraglichen Tagen gearbeitet hatten, aber heute entweder nicht da waren oder mittlerweile gekündigt hatten. Mit ihnen wollte sie am nächsten Tag reden.

»Da ist es.« Sie deutete an Beamons Nase vorbei aus dem Fenster auf der Fahrerseite. Er riss das Steuer herum, dass sie nach dem Armaturenbrett griff, wendete mitten auf der Straße und hielt vor dem Laden.

»Alles aussteigen«, verkündete er unnötigerweise. Laura hatte die Tür schon geöffnet und sprang aus dem Wagen, ehe er noch ganz stand.

»Guten Tag, ich bin Mark Beamon vom FBI, und das ist meine Partnerin Laura Vilechi.« Es war nicht nötig, seinen Ausweis zu zeigen; der Mann hinter der Theke erkannte ihn, sobald er seinen Namen nannte.

»Mann, das ist großartig, Sie kennen zu lernen, Mr. Beamon. Ich habe Sie im Fernsehen gesehen.« Er nickte Laura grüßend zu. »Was führt Sie in meinen Laden?«

»Das ist Ihr Laden?«, fragte Beamon und musterte kritisch eine üppige blonde Perücke auf einem weißen Schaumstoffkopf.

»Ja, Sir.«

Beamon nickte und schlenderte neugierig durch das Geschäft.

Da sie sah, dass Beamon anfing, das Interesse an dieser langweiligen Befragerei zu verlieren, ergriff Laura die Initiative. »Sie können uns möglicherweise ein paar Informationen geben.«»Klar, mache ich gern, wenn ich helfen kann.«

Sie lächelte und setzte sich in einen alten Rasierstuhl in der Mitte des Raums. »Wir suchen einen Mann, ungefähr eins siebzig groß, dünn, zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig, der möglicherweise vor ungefähr zwei Monaten hier eine graue oder braune Perücke und einen passenden Bart gekauft hat, dazu Make-up, um vielleicht seine Haut abzudunkeln. Vermutlich hat er nicht viel Ahnung davon gehabt, wie man das Zeug anwendet – hat möglicherweise um Hilfe gebeten …«

Der Mann lehnte sich mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck an die Theke.

»Ist das wegen diesem CDFS?«

Sie nickte.

»Hat er kurzes dunkles Haar – fast so ein Militärschnitt?«

»Vielleicht, wir sind nicht sicher.«

»Ja, ich erinnere mich an so einen Kerl. Wollte nur das Beste und hat ein kleines Vermögen ausgegeben.«

Beamon, der dem Gespräch gar nicht zuzuhören schien, war plötzlich neben ihnen.

»Entschuldigen Sie, Mr ….«

»Reasor. Aber nennen Sie mich ruhig Chris.«

»Chris. Sie können sich also an diesen Mann erinnern?«

»Ja, klar. Er ist mir irgendwie im Gedächtnis geblieben, wissen Sie? Meistens habe ich Stammkunden, die Kleinkram und die gängigen Sachen kaufen, und es ist eher ungewöhnlich, dass ein Fremder hier reinkommt und einen derart großen Einkauf macht. Außerdem schien er mir auch nicht der Typ für einen Schauspieler zu sein. «

»Haben Sie ihn gefragt, wozu er die Sachen braucht?«, erkundigte sich Laura

Reasor überlegte einen Moment. »Ich glaube nicht. Er war eher zugeknöpft und nicht sehr freundlich. War aber ziemlich lange hier drin – hatte absolut keine Ahnung vom Schminken.«

»Chris, würde es Ihnen was ausmachen, mit uns nach Washington zu kommen? Wir würden Sie in einem netten Hotel unterbringen und Ihnen natürlich den Verdienstausfall ersetzen. Ich möchte gern, dass Sie mit einem unserer Spezialisten ein Phantombild erstellen.«

»Na klar komme ich mit. Diese Typen vom CDFS sind doch Irre. Ich will nur rasch meinen Mantel holen.«

Beamon schaute dem Ladenbesitzer hinterher, der im Hinterzimmer verschwand, dann wandte er sich um und versetzte dem Rasierstuhl einen festen Schubs. Laura hielt sich an den Lehnen fest und lachte. »Sieht so aus, als hätten wir Ihnen doch noch mal den Hintern gerettet, Mark.«

Alejandro Perez eilte durch den prachtvollen Garten, der Luis Colombars Besitz umgab, und nickte im Vorbeigehen den Wachen zu. Man merkte, dass es Frühling geworden war. Es war noch immer warm, obwohl die Sonne gerade mit einem spektakulären Farbenspiel am Horizont unterging und den Garten in ein bezauberndes Licht tauchte. Doch Perez wusste nur zu gut, dass diese friedliche Atmosphäre trügerisch war.

Er verließ den gepflasterten Gehweg und bog auf einen schmalen Pfad ein. Zwischen den Bäumen konnte er in der Ferne ein Gewächshaus sehen, in dem Licht brannte.

Perez beschleunigte seine Schritte. Er schlüpfte durch die Tür und schloss sie rasch hinter sich, damit die Wärme nicht entweichen konnte. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, zum einen wegen der Hitze, zum anderen bei der Erinnerung an Colombars Tonfall, als er ihn zu sich zitiert hatte.

»Ich bin hier drüben, Alejandro.«

Colombar stand an einem Tisch, der mit großen bunten Blumen bedeckt war. Perez bemerkte einen seltsamen Geruch, der immer schlimmer wurde, je näher er kam, und fragte sich, warum Colombar Blumen zog, die so widerlich rochen, selbst wenn sie schön anzusehen waren. »Ich bin so rasch ich konnte gekommen, Luis«, sagte er und tat, als sei er außer Atem.

»Ich nehme an, Sie haben das Päckchen noch nicht gesehen, das ich heute erhalten habe?« Colombar beschäftigte sich weiter konzentriert mit einer hellrosa Blumenzwiebel.

»Welches Päckchen?«

Colombar deutete mit seiner Schere nach hinten ins Gewächshaus. Perez schaute ihn fragend an, doch da Colombar schwieg, ging er in die angewiesene Richtung. Dort stand auf einem Tisch neben einigen Säcken mit Dünger und Erde eine Schachtel, die offenbar mit Federal Express geliefert worden war. Der Gestank wurde immer stärker.

Perez öffnete den Deckel. Der Geruch des verwesenden Kopfs raubte ihm fast den Atem. Hastig klappte er die Schachtel wieder zu und taumelte zurück, wobei er gegen Colombar stieß, der leise zu ihm getreten war.

»Lesen Sie die Karte«, befahl er.

Perez schluckte schwer und öffnete zögernd die Schachtel. Über dem Mund des Kopfes lag ein blutverschmierter Umschlag. Ein gelbes Auge starrte ihn an, als er mit spitzen Fingern danach griff und sich auf die andere Seite des Gewächshauses zurückzog.

WIE DU SIEHST, SIND ALLE LATINOS VERSAGER,

DU KASTRIERTER STUMMELSCHWANZ

GRUSS,

JOHN

»Ich hatte gehofft, Sie könnten dieses Briefchen für mich übersetzen, Alejandro. Mein Englisch ist leider nicht so besonders.«

Perez war drauf und dran, die Übersetzung ein wenig abzuschwächen, überlegte es sich jedoch anders. Colombars Englisch war zweifellos gut genug, dass er die Notiz verstanden hatte. Er fragte sich nur, warum Colombar es von ihm hören wollte.

Colombar lehnte sich gegen einen leeren Tisch, während er übersetzte; nur seine rechte Hand spielte unheilvoll mit der Schere. »Wissen Sie, wer das war?«

Perez versuchte, seine Nervosität zu verbergen. »Ich vermute, einer der Männer, den Sie hinter John Hobart hergeschickt haben.«

»Unser kleiner Plan hat nicht besonders gut funktioniert, nicht wahr?«, meinte Colombar.

Unser kleiner Plan?

Perez wischte sich den Schweiß von der Stirn und verzichtete wohlweislich darauf, seinen Chef zu korrigieren. »Anscheinend nicht.«

Das hatte Colombar offenbar hören wollen. Er wandte sich um und beschäftigte sich wieder mit der kranken Zwiebel. »Ich will, dass Sie diesen John Hobart finden. Danach rufen Sie mich an, und ich kümmere mich um alles Weitere.«

»Luis, das ist genau die Reaktion, die unser Mr. Hobart provozieren will«, erwiderte Perez bestürzt. »Wir müssen das FBI informieren. Es ist viel besser in der Lage, ihn zu finden. Vor allem jetzt, da er weiß, dass wir nach ihm suchen.«

»Nein«, entgegnete Colombar ruhig. »Sie machen ihn für mich ausfindig. Ich will die Augen dieses Mannes in meiner Hand halten.«

Perez schwieg. Seit er Colombar kannte, hatte er ihn nur zweimal in dieser Stimmung gesehen. Das Ausmaß seiner Wut konnte man üblicherweise daran ablesen, wie er reagierte. Eher harmlos war, wenn er in seinem einstudierten europäischen Spanisch schrie; eine Steigerung war das Gebrüll im Spanisch seiner Jugend; in rasendem Zorn hatte er auch schon mit bloßen Händen getötet, doch wirklich gefährlich wurde es, wenn er völlig ruhig blieb. Dann konnte man sich samt seiner Familie auf einen langsamen, qualvollen Tod vorbereiten.

»Ich reise sofort ab, Luis. Sollen wir die anderen über diese Entwicklung informieren?«

»Nein.«

Mark Beamon 01 - Der Auftrag
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